Design Innovation

Warum inklusives Design zu Innovationen führt

Designer:innen bei der Arbeit an einem Projekt, bei dem sie verschiedene Nutzergruppen berücksichtigen. Auf schwarzem Hintergrund.

Inhaltsverzeichnis

9 Minuten
Mittwoch, 25.10.2023

In Gesprächen über inklusives Design fällt immer wieder der Begriff "normal". Was wird damit eigentlich gemeint? Im User-Experience-Kontext wird versucht, damit die Grenze zwischen Interaktionen zu ziehen, die gewöhnlich erscheinen, und solchen, die von bestimmten Funktionen abhängen, wie z. B. solchen, die Barrierefreiheit unterstützen.

Ab und zu hören wir den Begriff "normal", um die Mehrheit einer Nutzergruppe zu beschreiben, im Unterschied zu den so genannten “Edge Cases”.

Aber was ist schon “normal”? Normal ist ein Begriff, über den wir nur selten nachdenken, zu tief scheint er in unseren Sprachgebrauch verwurzelt zu sein. So tief, dass seine Bedeutung für uns in Stein gemeißelt wirkt. Im Großen und Ganzen hinterfragen wir ihn nicht, aber würde man Menschen fragen würde, welche Art von Messgröße "Normalität" ist, kämen je nach Kontext unterschiedliche Antworten dabei heraus. Denn im Gegensatz zu unserem selbstverständlichen Umgang mit dem Begriff “normal”, beschreibt er etwas abstraktes. Seine Bedeutung ist volatil. Grund genug uns mit den Wurzeln zu befassen.

In diesem Artikel tauchen wir ein in die Welt des inklusiven Designs:

  • Wir blicken in die Geschichte von “Normalität”
  • Schauen uns Design für echte Menschen an
  • Identifizieren Methoden für inklusives Design
  • Und sprechen darüber wie sie sich skalieren lassen
Deduktives Design im Prozess.

Die Geschichte von “Normalität”

Worüber sprechen wir also, wenn wir das Wort "normal" verwenden? Ursprünglich ist es ein mathematischer Begriff, der erst im 19. Jahrhundert in unsere Alltagssprache aufgenommen wurde. Um zu verstehen, was das für uns heute bedeutet, vor allem für Designer:innen, müssen wir in der Geschichte zurückreisen, 233 Jahre, um genau zu sein, und König Ludwig XVI. von Frankreich treffen. Ein König, der damals mit unangenehmen Umständen konfrontiert war, im genauen mit einer Revolution. Er übernahm sein Land mit vielen Schulden und versuchte, diesem wieder einen Aufschwung zu geben. Durch das Einberufen der Generalstände löste er letztendlich die Französische Revolution aus.

Auch wenn wenn er sie nicht mehr erlebt hat, zählt die Französische Revolution zu den einflussreichsten Ereignissen der Geschichte. Ihr Einfluss führte zu einer Welle politischer Veränderungen in Europa, darunter die Errichtung konstitutioneller Monarchien und - was oft übersehen wird - die Bildung großer Bürokratien.

Zum ersten Mal überhaupt sammelten Nationalstaaten auf systematische Weise Daten über ihre Bürger:innen.

Adolphe Quetelet, ein belgischer Astronom und Mathematiker, war besonders an diesen großen Datensätzen interessiert und begann, die medizinischen Daten von etwa 5700 britischen Soldat:innen zu erfassen. Im Laufe seiner Studien berechnete er die Summe ihrer Körpergrößen und teilte sie durch ihre Anzahl. Damit war Quetelet der Erste in der Geschichte, der jemals den Durchschnitt von menschlichen Körperteilen berechnet hat.

Um seine Denkweise zu verstehen, haben wir ein wenig experimentiert und das Gleiche mit der Körpergröße unseres Teams gemacht. Mit dem Ergebnis, dass ein:e Mitarbeiter:in unseres Designstudios im Durchschnitt 177 Zentimeter groß ist. Aber was beutetet diese Zahl eigentlich?

Können wir sie als Prognose für die zu erwartende Größe der nächsten Person, die zu unserem Team stößt, verwenden? Ist es eine repräsentative Größe für alle Teammitglieder? Tatsächlich mussten wir feststellen, dass kein einziges Teammitglied in Wirklichkeit exakt 177 Zentimeter groß ist.

Diese Zahl ist keineswegs so eindeutig, wie sie zuerst schien. Je mehr Menschen sich mit der Zahl befassten, desto unterschiedlichere Interpretationen und Meinungen zu ihrer Bedeutung tauchten auf. Jede Meinung wurde zudem von den individuellen Blickwinkeln und Vorannahmen der Person beeinflusst, die darüber nachdachte.

Als Quetelet über die durchschnittliche Größe eines britischen Heeresmitglieds grübelte, kam er zu einer Schlussfolgerung, die stark von seiner Denkweise als Mathematiker beeinflusst war. Er stellte fest, dass die Körpergröße der Soldat:innen einer Gaußschen Normalverteilung entsprach.

In einem unreflektierten Moment kam Quetelet zu einer Interpretation, die von seiner mathematischen Sichtweise geprägt war. Je näher das Maß eines tatsächlichen Individuums am Durchschnitt der Verteilung, d. h. an ihrem mathematischen Normalwert lag, desto näher waren einzelne Soldat:innen ihrem Vorbild: dem einen perfekten und besten Heeresmitglied, bestimmt durch die Naturgesetze.

In den folgenden Jahren weitete Quetelet seine Erkenntnisse auf die Gesellschaft als Ganzes aus. In seinen zutiefst inhumanen Interpretationen betrachtete er den Durchschnitt als ein Mittel, um den Grad der "Abweichung" einer Person zu messen. Er erklärte Missbildungen und Krankheiten als Abweichungen von der Norm, dem Ideal. Außerdem verwendete er seine Erkenntnisse, um seine Vorstellung von einer perfekten Gesellschaft zu rechtfertigen.

So falsch sie aus heutiger Perspektive waren, hatten Quetelets Schlussfolgerungen einen massiven Einfluss auf das relativ neue Feld der Sozialwissenschaften, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts etablierte.

Einflussreiche Persönlichkeiten wie Florence Nightingale und Karl Marx verwiesen in ihren Arbeiten auf Quetelets Forschung. In der Folgezeit wurden menschliche Merkmale und Verhaltensweisen zunehmend aufgrund von Stereotypen kategorisiert und im Namen der Wissenschaft validiert

Es ist wichtig zu betonen, dass Quetelets mathematische Forschung zunächst auf neutralen Grundlagen beruhte. Genauso wie unser Versuch, aus der durchschnittlichen Körpergröße des DAYONE Teams einen Sinn abzuleiten, sollte der von ihm verwendete Interpretationsrahmen kritisch und skeptisch hinterfragt werden.

Induktives Design

Design für echte Menschen

In seinem Buch "The End of Average" beschreibt Todd Rose, welchen Einfluss Quetelets Erbe immer noch auf heutige Denkmuster hat. Wir neigen dazu, zu glauben, dass wir aussagekräftige Schlüsse über eine Person ziehen können, wenn wir die Eigenschaften eines durchschnittlichen Mitglieds der sozialen Gruppe kennen, zu der sie gehört. Deshalb sprechen wir immer noch von "neurotischen Persönlichkeitstypen", "Typ-A-Persönlichkeiten" oder schreiben jemandem eine "typische Führungspersönlichkeit" zu.

Diese impliziten Denkmuster erklären, warum Designer:innen, die Methoden wie Personas verwenden, oft viel Zeit und Mühe darauf verwenden, den perfekten Stereotyp zu schaffen, der eine große Gruppe von Menschen repräsentieren soll. Aber kann das wirklich der richtige Ansatz sein?

Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Menschen tatsächlich ganz unterschiedliche Bedürfnisse haben, ähnlich wie die Durchschnittsgröße der DAYONE-Mitarbeitenden nicht nur eine einzige Person in unserem Team repräsentiert. Wenn wir unsere Designs auf solche Stereotypen ausrichten, würden sie in der Realität höchstwahrscheinlich scheitern. Man stelle sich vor, wie unbequem es für die meisten von uns wäre, wenn jeder Schreibtisch in unserem Studio auf die Körpergröße einer 177 cm großen Person zugeschnitten wäre. Rückenschmerzen wären vorprogrammiert!

Dieser Ansatz würde uns der wertvollen Erkenntnisse berauben, die wir während unserer qualitativen Forschung sammeln können: Zitate, Beobachtungen, Aktivitäten und Interaktionen echter Menschen.

Aus diesem Grund räumen Innovationsprozesse wie Design Thinking qualitativen Forschungsmethoden, die sich auf sogenannte “extreme” Nutzergruppen konzentrieren, viel Raum ein, um Inspiration für Veränderungen und Innovationen zu gewinnen.

Wir bezeichnen das gerne als "induktives Design". Induktion beschreibt den wissenschaftlichen Prozess, bei dem aus der genauen Beobachtung von Einzelfällen allgemeingültige Theorien abgeleitet werden. Mithilfe qualitativer Forschung lassen wir uns von den Bedürfnissen einzelner Menschen inspirieren und nutzen diese Inspiration, um Innovationen voranzutreiben, die vielen zugutekommen.

Die entgegengesetzte Art des Denkens wird als "Deduktion" bezeichnet. Hier werden etablierte wissenschaftliche Theorien angewendet, um Rückschlüsse auf Einzelfälle zu ziehen, ähnlich wie es Quetelet versucht hat. Als Designer:innen wenden wir diese Denkweise im Allgemeinen an, wenn wir Methoden der quantitativen Forschung nutzen. Die sind natürlich auch in anderen Szenarien sehr effektiv. Wir können sie beispielsweise nutzen, um die Leistung etablierter Services zu bewerten und um zu bestimmen, wo wir wir anfangen sollten, Probleme intensiver zu untersuchen.

Als Designer:innen müssen wir uns sehr bewusst sein, in welchem Kontext wir arbeiten. Die Entscheidung, ob wir qualitative oder quantitative Forschung nutzen, sollte eine bewusste sein. Wir müssen uns fragen, in welche Richtung unser Denken und unsere Überlegungen gehen sollen, bevor wir eine Entscheidung über die anzuwendenden Forschungsmethoden treffen.

Methoden für inklusives Design identifizieren

Um das Potenzial qualitativer Forschung in Innovationsprozessen auszuschöpfen, müssen Wege gefunden werden, um große Mengen heterogener Daten wie Zitate und Beobachtungen, zu synthetisieren, ohne sie dabei durch das Einsortieren in Stereotypen zu verfälschen. Es ergibt Sinn, nach Methoden zu suchen, die in der Lage sind, die vielfältigen und mitunter voneinander abweichenden Bedürfnisse Ihrer Nutzer:innen zu erfassen. Beispiele hierfür sind das Value Proposition Canvas zur Synthese von Informationen oder das Rainbow Spreadsheet zur Datenvisualisierung. Aber das ist erst der Anfang. Man könnten sogar einen Schritt weitergehen und sich von Beginn der Research-Phase an darauf konzentrieren, von Extremennutzern lernen.

Ein:e extrem engagierte:r Nutzer:in ist jemand, mit ausgeprägter Neigung zu oder Abneigung gegenüber einer Sache, einem Produkt oder einer Dienstleistung. Diese:r Nutzer:in hat entweder sehr häufig Kontakt mit dem Service oder Produkt oder überhaupt keinen. Es ist auch möglich, dass der User physisch von der "Norm" abweicht.

Inklusives Design skalieren

In einem Projekt über geteilte Büroräume haben wir untersucht, welche Erwartungen Menschen an Co-Working-Spaces haben. Unter den Befragten waren sowohl "typische" User aus Start-ups oder Freelancer:innen als auch extreme Nutzer:innen, darunter Menschen, die aufgrund chronischer Gesundheitsprobleme freiberuflich arbeiten und daher viel Flexibilität in ihrem Arbeitsumfeld benötigen.

Fast alle Befragten hoben Netzwerken als Vorteil von Gemeinschaftsbüros hervor. Dieses Bedürfnis wurde besonders deutlich, als wir mit den Extremnutzer:innen sprachen, da diese im Allgemeinen mehr Einschränkungen haben, die sie vom Networking abhalten.

Im weiteren Verlauf unseres Designprozesses haben wir uns dafür entschieden, eine Lösung anzustreben, die insbesondere diesen Grenznutzer:innen zugutekommen kam. Dazu mussten wir die Wurzel des Problems finden und angehen. Wenn wir eine Lösung entwickeln könnten, die Menschen, die in herkömmlichen Arbeitsumgebungen Schwierigkeiten mit Netzwerken haben, unterstützt, würde diese Lösung letztendlich allen Nutzer:innen zugutekommen und somit zu etwas völlig Neuem führen.

Ein weit verbreiteter Irrglaube unter Produktteams ist, das inklusives Design schwer zu skalieren ist. Diese Angst kann uns daran hindern, geniale Lösungen zu entwickeln. Tatsächlich haben das Lernen von und das Gestalten für Extremnutzer:innen viele der Designs hervorgebracht, ohne die wir uns unser Leben heute nicht mehr vorstellen könnten:

Bordsteinkanten

In den 1960er Jahren, nach den Protesten der Behindertenbewegung in den USA, wurden Bordsteinkanten eingeführt, um Rollstuhlfahrer:innen das Überqueren von Straßen zu erleichtern. Doch später stellte sich heraus, dass diese scheinbar kleine Änderung eine Vielzahl von Menschen profitieren ließ, einschließlich Fahrradfahrende, Bauarbeiter:innen und Eltern mit Kinderwagen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom sogenannten "Bordsteinkanteneffekt":

E-Mails

Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel ist die Erfindung des ersten E-Mail-Protokolls durch Vint Cerf, der oft als der "Vater des Internets" bezeichnet wird. Sein Ziel war es damals, eine Form von Fernkommunikation zu schaffen, die nicht auf Hörvermögen angewiesen ist, da er und seine Frau selbst gehörlos sind.

Smartphones

Im Jahr 2005 erwarb Apple das Unternehmen "FingerWorks", das sich auf die Entwicklung barrierefreier Computerschnittstellen für Menschen mit motorischen Einschränkungen spezialisiert hatte. Apple-Ingenieure verwendeten diese Technologie, um eine benutzerfreundliche Touchscreen-Oberfläche zu entwickeln, die schließlich im iPhone zum Einsatz kam. Ein gutes Beispiel dafür, wie inklusives Design nicht nur einzelnen Nutzergruppen zugutekommt, sondern oft bahnbrechende Innovationen für alle schafft.

Unsere Geschichte ist voll von solchen Beispielen. Wir sind Teil dieser Geschichten, wenn wir in überfüllten U-Bahnen Videos mit automatischen Untertiteln anschauen, damit alle, unabhängig von ihrer Hör- oder Sehfähigkeit, teilhaben können. Wir sind Teil dieser Geschichten, wenn uns automatische Türen willkommen heißen und uns den Zugang ermöglichen, selbst wenn unsere Hände mit Lebensmitteln beladen sind. Inklusives Design bereichert unser alltägliches Leben und ermöglicht es uns, mehr Menschen miteinzubeziehen.

Eine Illustration von Designer:innen, die verschiedene Nutzerprofile erstellen und sorgfältig auf die Bedürfnisse und Herausforderungen dieser Benutzergruppen eingehen.

Mit inklusivem Design zu Normalität

In all diesen Geschichten wird die künstliche Grenze zwischen "normalen" Interaktionen und sogenannten "Grenzfällen" aufgehoben, um ein inklusives Design zu schaffen, von dem eine breite Palette von Usern profitiert.

Letztendlich bedeutet das, dass Behinderungen nicht nur als persönliche Gesundheitszustände betrachtet werden sollten, wie von der WHO suggeriert. Stattdessen sind sie ein komplexes Phänomen, das die Folge unangemessener Interaktionen zwischen einem Individuum und der Gesellschaft, in der es lebt, beschreibt. Diese Sichtweise eröffnet Designer:innen ein weites Feld von Möglichkeiten, betont aber auch unsere Verantwortung, da wir Interaktionen gestalten, die einen sinnvollen Einfluss auf die Gesellschaft haben.

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Verfasst von: Nico Wohlgemuth

Nico ist Gründer und Managing Partner von DAYONE. Gemeinsam mit unserem Team hat er "DIaaS® - Design Innovation as a Service" entwickelt. Mit unserem Vorgehensmodell designt er co-kreativ - mit Konzernen, großem Mittelstand und aufstrebenden Startups- nutzerzentrierte digitale Geschäftsmodelle und die dazugehörigen digitalen Produkte. Die dafür notwendigen Denk- und Arbeitsweisen werden dabei nachhaltig vermittelt. Neben seiner Rolle DAYONE ist er zweifacher Patenthalter, Digital-Expert-Speaker bei der OMR-Academy und Google-Digital-Academy, im Advisory Board des Startups MyInnerHealthClub und stellvertretender Vorsitzender des Metaverse Ressorts im BVDW.

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